Weil ich "muss"... Auswirkungen und Einschränkungen

Psychische und neurologische Erkrankungen haben erheblichen Einfluss auf das Leben und den Alltag von Betroffenen, wie jede andere Krankheit auch.
Eine Grippe beispielsweise bindet den Erkrankten ans Bett. Eine ernsthafte Verletzung schränkt die Bewegungsfreiheit ein. Schwere Erkrankungen, wie z.B. Krebs, erfordern stationäre Behandlungen und Aufenthalte, sowie langwierige Therapiemaßnahmen.
Alle Krankheiten verändern, zumindest zeitweise, den bisher gewohnten Alltag. Besonders dauerhafte, also chronische Erkrankungen beeinflussen das nachfolgende Leben nachhaltig.

Auch psychische und neurologische Krankheiten - und das sind sie, denn sie sind im offiziellen internationalen Krankheiten-Klassifikationssystem (ICD-10) gelistet - haben ähnliche Auswirkungen auf die Betroffenen. Sie müssen ebenso behandelt werden, von Fach-Ärzten und -Therapeuten, in besonderen Krankenhäusern und Kliniken, mit speziellen Medikamenten. Oft sind diese Erkrankungen chronisch, da sie schwer und meist zu spät erkannt werden, eine sofortige und rechtzeitige Behandlung also ausbleibt.
Der Einfluss auf das Leben von Betroffenen ist immens, da die Psyche - das ICH - alles beeinträchtigt: den Hormonhaushalt, das Gefühlsleben, die Wahrnehmung, die Handlungsfähigkeit, die Gedanken, sogar den Körper, das Immunsystem, die Verdauung, den Bewegungsapparat, die Reizaufnahme.

Um einen Einblick in mögliche Auswirkungen und Einschränkungen im Alltag durch psychische und neurologische Erkrankungen zu schaffen, beschreibe ich meinen Fall:

Dauerhafte traumatische Erlebnisse in meiner Kindheit und Jugend, und sogar als Erwachsener - die dauerhafte Missachtung meiner Persönlichkeit, meiner Talente, meiner Wünsche und Bedürfnisse, ständige Erniedrigungen und Bloßstellungen, die Vernachlässigung und Überforderung meiner kindlichen Seele, der Missbrauch meines Körpers und Geistes, Verlusterfahrungen, alles durch nahestehende Bezugspersonen - haben eine gesunde Entwicklung blockiert und verhindert. Ich bin nicht wirklich in der Lage, meine Bedürfnisse, Wünsche und Empfindungen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn sie zu äußern. 
Zudem leide ich unter erheblichen Selbstzweifeln und mangelndem Selbstwert. Jede Entscheidung, jede Äußerung, jedes Handeln ist ein Drahtseilakt und wird von mir gründlich hinterfragt. Da ich selbst nicht weiß, was ich will, tue ich was andere wollen, zumindest denke ich das. Dazu beobachte ich akribisch mein Umfeld, werte Gestiken und Mimiken aus, achte genau auf Stimmlagen und Stimmungen. 
Aufgrund der disharmonischen Vergangenheit, bin ich harmoniesüchtig. Jede Schwankung in der Harmonie führt bei mir zum Einlenken, und ich nehme und ziehe mich zurück. Sie muss unter allen Umständen wiederhergestellt werden. 
Meine Gefühle kann ich nicht deuten, emotionale Reaktionen sind mir weitestgehend fremd, ich reagiere eher sachlich auf alles.
Erst viele therapeutische Maßnahmen und Psychiatrie-Aufenthalte haben mir meine Situation verdeutlicht, aber von einer Lösung dieser Problematik bin ich noch weit entfernt.
Eine neurologische Wahrnehmungsstörung, das Fehlen von wichtigen Filtern, führt bei mir, schon seit meiner Geburt, zu einer Hyperaktivität im Gehirn. Ich habe dadurch eine unbegrenzte Fähigkeit zur Aufnahme von Informationen. Ich bin aber auch immer ein Getriebener, ruhelos und schlaflos. Dies führt häufig zu einer Überlastung des Gehirn, zu einer Reizüberflutung und einem stundenlangen Wegtreten, einer sogenannten Dissoziation.
Das Zusammenspiel beider Zustände hat Depressionen und heftige Panikreaktionen zur Folge, welche mich zusätzlich bremsen und lähmen.

Die Gesamtheit der Erkrankungen macht mich praktisch handlungsunfähig. Vor einigen Jahren musste ich meine Selbständigkeit aufgeben, weil die häufigen Ausfälle, die dadurch bedingte zunehmende Unzuverlässigkeit, zu einer totalen Arbeitsunfähigkeit führte. Jeder erneute Versuch, eine Arbeit aufzunehmen, scheiterte.
Ich war nun vom Amt abhängig. Meine Unfähigkeit, meine Bedürfnisse zu äußern, hatte fatale finanzielle Folgen für mich, denn die Sachbearbeiterin war überzeugt, ich würde simulieren, und warf mir deshalb jeden Stein in den Weg, den sie finden konnte.
Das führte nicht gerade zu einer Verbesserung meiner Situation. Mehrere Zusammenbrüche und Suizidgedanken hatten Psychiatrie-Aufenthalte zur Folge. Dort wurde mir geraten, mich an eine Einrichtung zu wenden, die mich in solchen Belangen unterstützen kann. In dieser wiederum wurde mir nahegelegt, eine rechtliche und/oder eine sozial-psychiatrische Betreuung zu beantragen - was ich auch tat.
Mittlerweile hat sich mein Zustand so sehr verschlechtert, dass ich die Wohnung überhaupt nicht mehr alleine verlassen kann. Ich kann alleine keine Besuche tätigen, einkaufen oder nur spazieren gehen. Meine liebste Freizeitbeschäftigung, das Fahrradfahren musste ich aufgeben. Ich dissoziiere sogar in der Wohnung und verschwinde für Stunden von der Couch. Ich bin Früh-Rentner, voll erwerbsunfähig, werde rundum betreut und mit Pflegegrad 2 von meiner Frau unterstützend "gepflegt". Diese Situation ist für mich oft mal niederschmetternd. Ich fühle mich dann als Versager. Aber ich habe keine Wahl! Weil ich "muss"...

Trotz allem gebe ich nicht auf! Ich bin dankbar für die Hilfe, die ich erhalte, für die Möglichkeiten, die mir durch die Betreuung und beinhaltende Begleitungen geboten werden. Endlich habe ich auch eine geeignete Therapie gefunden, auf die ich einiges an Hoffnung setze. Ganz besonders dankbar bin ich für die liebevolle Unterstützung meiner Frau, ohne die ich bestimmt nicht so positiv eingestellt wäre...

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